Die SacharoffsZwei Tänzer aus dem Umkreis des Blauen Reiters -

Marianne von Werefkin, Der Tänzer Sacharoff, 1909, Tempera auf Karton © Ascona, Fondazione Marianne Werefkin, Museo communale d'arte moderna

Ihr beispielloser Brückenschlag von der Malerei zum Tanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte das Tänzerpaar Alexander Sacharoff (1886 - 1963) und Clotilde von Derp (1892 - 1974) weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. Ihr neuartiger, bei Alexander Sacharoff vor allem an bildkünstlerischen Vorbildern aus der Antike und der Renaissance orientierter Tanzstil, spielte eine entscheidende Rolle in der Erneuerung der Kunst.

Befreundete Maler und Künstler wie Kandinsky, Jawlensky, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin, Wladimir von Bechtejeff und andere, die sich 1909 in der "Neuen Künstlervereinigung München", dem späteren "Blauen Reiter", zusammengeschlossen hatten, waren fasziniert von den aus der bildenden Kunst stammenden Tanzposen, Rollenspielen und Kostümierungen der Sacharoffs. Sie hielten diese in Skizzen, Skulpturen, Fotografien und Gemälden fest, die nun in einer Ausstellung im Museum Villa Stuck zu sehen sind.

Erstmals werden in München originale, von Alexander Sacharoff selbst entworfene Kostüme gezeigt. Phantastische Kostüm- und Bühnenentwürfe offenbaren die Wurzeln Sacharoffs, der zunächst in Paris an der Académie Julian Malerei studiert hatte. Briefe und Gedichte, unter anderem von Rainer Maria Rilke und Yvan Goll an Clotilde Sacharoff, runden das Bild eines Künstlerpaars ab, das seine Karriere in München begonnen hatte und heute als Wegbereiter des modernen Tanzes gilt.

Die Ausstellung, die vom Deutschen Tanzarchiv Köln/SK Stiftung Kultur, und dem Paula Modersohn-Becker Museum, Bremen, konzipiert wurde, bietet nach fast einem Jahrhundert einen neuen Blick auf die Bedeutung der Sacharoffs für die Entwicklung der Künste zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die Verbindung von Avantgarde-Tanz, -Theater und bildender Kunst hat im Museum Villa Stuck eine reiche Tradition. Loïe Fuller. Getanzter Jugendstil (1995) war eine Hommage an eine Tänzerin im "Zentrum der Avantgarde des beginnenden 20. Jahrhunderts" (G. Brandstetter). Alexandra Exters Bühnen - und Kostümentwürfe - in der Ausstellung Avantgarde & Ukraine (1993) zu sehen - zeigten den Wunsch nach Neuordnung in der bildenden Kunst und im Theater. Und nicht zu vergessen, stellte die Ausstellung Japan. Theater in der Welt (1998) Japans Avantgardetheater und -tanz vor.

Zur Ausstellung

     
Geprägt durch sein Studium der Malerei, die Beschäftigung mit Kunstwerken des Louvre und Aufführungen Sarah Bernhardts, kam Alexander Sacharoff 1905 in die Kunstmetropole München. Mit seinen zahlreichen experimentellen Bühnen und Kunstschulen bot ihm München ein geistiges Klima, das seiner Suche nach neuen Ausdrucksformen entgegenkam. 1909, noch im Gründungsjahr, trat er der "Neuen Künstlervereinigung München" bei, aus der der "Blaue Reiter" hervorging. Gemeinsam mit Kandinsky und dem russischen Komponisten Thomas von Hartmann führte er Bühnenexperimente durch und arbeitete an der Verwirklichung synästhetischer Gesamtkunstwerke.

Am 2. Juni 1910 trat er als erster männlicher Podiumstänzer mit Tänzen aus der Antike zu der eigens von Hartmann komponierten "Choreographischen Suite" im Münchner Odeon-Theater auf. 1913 lernte er auf einem Ball am Chinesischen Turm Clotilde von Derp kennen, die als moderne Tänzerin bereits Jahre vor Mary Wigman von sich reden machte. 1919 heirateten Alexander und Clotilde. Ihre Karriere führte sie auf Tourneen durch Europa, Amerika und Fernost. Sie traten - mit Ausnahme der Jahre 1940 bis 1945 im südamerikanischen Exil - bis zu ihrem Lebensende gemeinsam auf.

Der von Sacharoff neu geschaffene Tanzstil, der durch die Aufhebung der traditionellen Geschlechterrollen des klassischen Balletts und eine starke Hervorhebung des Androgynen gekennzeichnet war, führte zu gegensätzlichen Reaktionen. Was manche Zuschauer und Kritiker empörte, regte Künstlerkollegen zu neuer Kreativität an. Die Symbiose klassischer Themen mit Formen des Jugendstils sowie die Radikalisierung des künstlerischen Ausdrucks durch die Reduktion der Mittel entsprach zeitgenössischen Ideen einer neuen, von den Fesseln akademischer Tradition befreiten bildenden Kunst. Die Tänzer wurden zum Motiv zahlreicher Skizzen und Darstellungen, vor allem von Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin.

Im Kontext von Sacharoffs tänzerischem Schaffen entstanden zahlreiche Arbeiten von hohem künstlerischen Wert: Bewegungsstudien zu Choreographien, Kostüm- und Bühnenentwürfe in Form eigenwilliger Collagen, bei denen Silber- und Goldpapiere, farbige Steine und andere, seltene Materialien auf phantasievolle Weise zusammengesetzt sind. "Die Wunderwelt von Tausend und eine Nacht erblüht aus diesen 'Gemälden' - aus farbigem Papier, bunten Steinen, Perlmutterpartikeln, Spitzefragmenten; das Sensorium für die Farbe ist bewundernswert; kindliche Phantastik verbindet sich mit raffiniertem Geschmack. Die Figurinen aber zeigen, wie sich dieser Künstler über die Kostüme seiner Tanzrevolutionen, die zugleich Kulturevokationen sind, Rechenschaft gibt; was für ein schöpferischer Akt neben dem Tanz das Kostüm bedeutet. Wie gesagt: man muss das selber sehen und bestaunen." (Feuilleton, Kunstchronik; undatierter Zeitungsausschnitt aus der Neuen Züricher Zeitung; Nachlass Alexander und Clotilde Sacharoff , DTK)

Chronologie

1886
Alexander Sacharoff wird am 26. Mai in Mariupol/Ukraine geboren.

1892
Clotilde Edle von der Planitz wird am 5. November in Berlin geboren.

um 1898
Alexander zieht nach Sankt Petersburg, um dort auf die weiterführende Schule zu gehen.

um 1900
Clotilde zieht mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach München. Dort erhält sie zunächst Geigenunterricht, später nimmt sie am Unterricht von Margaret Delius - Rice und Ethel Rice teil und wird in die Ballettklasse des Münchner Opernhauses aufgenommen. Ihre Lehrer sind Julie Bergmann und Anna Ornelli.

1903
Alexander geht nach Paris und studiert Malerei an der Académie Julian und an der Académie des Beaux-Arts.

1905
Alexander zieht nach München um.

1906 - 1909
Alexander nimmt Unterricht sowohl in Akrobatik im Schumann - Zirkus als auch in Klassischem Ballett.

1909
Alexander wird Mitglied der Neuen Künstlervereinigung München und arbeitet mit Wassily Kandinsky und Thomas von Hartmann an der Verwirklichung von synästhetischen Kunstwerken.

1910
Am 25. April hat Clotilde ihren ersten Auftritt im Münchner Unionssaal unter dem Namen Clotilde von Derp. Am 2. Juni gibt auch Alexander sein Debüt als Solotänzer im Münchner Odeon. Clotilde tanzt die erste Elfe im Sommernachtstraum am Künstlertheater in München unter der Leitung von Max Reinhardt. Sie tanzt dort außerdem die Haremstänzerin in seiner Pantomime Sumurun.

1911
Am Londoner Coliseum Theatre tanzt Clotilde mit großem Erfolg die Hauptrolle in Max Reinhardts Pantomime Sumurun.

1911 - 1912
Alexander tritt als Solotänzer in Deutschland auf (Hagen, Hamburg, Köln, usw.). Außerdem hat er Auftritte zusammen mit Rita Sacchetto. 1911 kehrt Alexander für kurze Zeit nach Rußland zurück.

1913
Alexander und Clotilde begegnen sich auf dem Münchner Presseball und treten fortan in gemeinsamen Programmen auf. Clotilde tanzt die Rollen des Küchenjungen (Petit Cuisinier) und des Bäckerjungen (Petit Mitron) im Bürger als Edelmann (Molière) am Königlichen Residenz-Theater in München.

1914
Alexander und Clotilde treten auf der Werkbundausstellung in Köln auf. Als der Krieg ausbricht geht Alexander nach Lausanne.

um 1916
Clotilde nimmt, ebenfalls in Lausanne, Ballettunterricht bei Enrico Cecchetti.

1916 - 1917
Alexander und Clotilde geben viele Auftritte in der Schweiz.

1919
Erste Ausstellung von Alexanders Collagen im Züricher Kunsthaus. Am 25. Juli heiraten Clotilde und Alexander in Zürich. Edith McCormick Rockefeller finanziert ihre erste Tournee in die Vereinigten Staaten.

1920
Am 17. Februar treten sie im New Yorker Metropolitan bei einer Benefiz-Gala auf. Am 6. April zweiter Auftritt im New York Globe Theatre.

1921
Im März oder April debütiert das Paar am Pariser Théâtre des Champs-Elysées.

1922
Im April tanzen Sie im Londoner Coliseum. Später lassen sie sich in Paris nieder.

1923 - 1930
Tournee durch Europa und den Mittleren Osten.

1930
Der Theateragent Strok organisiert eine Tournee in den Fernen Osten: Vorstellungen in Shanghai, Peking, Osaka, Tokio, Saigon.

1934
Zweite von Strok arrangierte Tournee in den Fernen Osten (China, Japan, Java). Direkt danach Tournee nach Kanada und in die Vereinigten Staaten.

1935
Auftritte in Montreal, Chicago, Detroit. Spätere Reise nach Südamerika mit Auftritten in Havanna, São Paulo, Montevideo, Buenos Aires (Teatro Colon).

1935 - 1939
Tourneen durch viele europäische Staaten.

1940
Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, sind sie in Portugal. Da sie nicht in ihre Pariser Wohnung zurückkehren können, lassen sie sich in Lissabon nieder.

1941
Sie emigrieren nach Südamerika, wo sie sich trennen. Alexander bezieht eine Wohnung in Buenos Aires und Clotilde geht nach Monte-video. Gelegentliche gemeinsame Auftritte.

1948
Am 19. Juli kehrt Clotilde nach Europa zurück. Alexander folgt ihr später nach Paris. Dort treten sie wieder zusammen im Pariser Théâtre des Champs-Elysees auf.

1952
Beide gehen nach Rom. Sie beginnen an der Accademia Musicale Chigiana in Siena zu unterrichten.

1954
Sie geben ihre letzte Vorstellung im römischen Teatro Eliseo.

1954 - 1963
Die Sacharoffs veranstalten Kurse in Siena.

1955
Zweite Ausstellung von Alexanders Collagen, Bühnen- und Kostümentwürfen in der Galleria delle Carrozze in Rom.

1955 - 1962
In diesen Jahren arbeitet Alexander vorübergehend als Kostümbildner.

1956
Alexander und Clotilde gründen eine SchuIe in Rom.

1963
Alexander stirbt am 25. September.

1974
Clotilde stirbt am 11. Januar.

(Quelle: Katalog zur Ausstellung, S. 264)