Anna EhrensteinFully Automated Orientalism -

Anna Ehrensteins Ausstellung „Fully Automated Orientalism“ bietet eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem sozialen Leben von Objekten, postkolonialer Theorie und rassifizierter Identität. Mit skulpturalen Interventionen, textilbasierten Arbeiten und Videoinstallationen untersucht Ehrenstein die Schnittstellen von systemischer Unterdrückung, Erinnerung und Widerstand und lädt die Betrachter*innen in eine immersive Erfahrung ein, die dominante kulturelle Narrative hinterfragt und die Kraft alltäglicher Widerstandsfähigkeit feiert.

„Intimate Histories“, nach einer Zusammenarbeit mit der afrodeutschen Performancekünstlerin Rebecca Pokua Korang, und „Passdeutscha“, Ehrensteins kollaboratives Video mit dem Künstler und Rapper Leonidas Emre Pakkan (Osiris 33), sowie nicht zuletzt die Videoarbeit „Türkenstraße“, Ergebnis eines ortsspezifischen Workshops in München in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Gülbin Ünlü, zeugen von Ehrensteins Glauben an die radikalen Möglichkeiten der spirituellen Koalition, des Rituals und des kollektiven Verlernens.

In „Fully Automated Orientalism“ kombiniert Ehrenstein unterschiedliche Geografen, Medien und kulturelle Formen, um eine kohärente Geschichte über die fortlaufenden Verhandlungen von Identität in einer postkolonialen Welt zu erzählen. Indem sie Alltagsgegenstände wie Autoteile, Fitnessgeräte und Textilien transformiert, schafft Ehrenstein eine dynamische Erzählung, die sowohl die Verletzlichkeit als auch die Stärke derer feiert, die in einem Kohlenstoffkapitalismus ein ungebändigtes Leben führen.

Den Auftakt macht die Reihe „Intimate Histories“, die nach einer Zusammenarbeit mit der afrodeutschen Performancekünstlerin Rebecca Pokua Korang zum Thema „Clans of Berlin“ entstand und untersucht, wie deutsche Politiker den Mythos der „Clan-Kriminalität“ erschufen. Die Arbeiten verwenden Autoteile – Symbole industrieller Stärke und kapitalistischer Mobilität – als Gefäße der Erinnerung und des Widerstands. Eingebettet in islamische Kalligraphie und historisch bedeutende Daten, wie Napoleons Invasion Ägyptens 1798 und den rassistischen Diskurs über türkische Migration in den deutschen Mainstream-Medien von 1973, erforschen die Skulpturen Themen wie das Erbe der Kolonialität und Islamophobie. Der altölgetränkte Raum schafft eine eindringliche, penetrante Umgebung für die Skulpturen, evoziert eine physische und geruchsintensive Erinnerung an die kapitalistischen Systeme fossiler Brennstoffe und versinnbildlicht den drohenden, kohlenstoffgetriebenen Zusammenbruch der ökologischen Ordnung.

Es folgt „Passdeutscha“, Ehrensteins kollaboratives Video mit dem Künstler und Rapper Leonidas Emre Pakkan (Osiris 33). Präsentiert als Fitnessmaschine stellt das Video physische Stärke kulturellen Narrativen institutionalisierter Diskriminierung gegenüber und reflektiert die gelebten Erfahrungen von mehrheitlich muslimischen Gemeinschaften in Deutschland. In Köln-Chorweiler und Berlin gedreht, entfaltet sich „Passdeutscha“ als Meditation über Migration, staatliche Gewalt und kulturellen Stolz, indem es Gewichtheben, Musik und Lebenserfahrungen zu einer Erzählung von Selbstermächtigung und Widerstand verbindet.
Ergänzt wird „Passdeutscha“ durch die Arbeit „Türkenstraße“, das Ergebnis eines ortsspezifischen Workshops in München in Zusammenarbeit mit der Künstlerin Gülbin Ünlü, deren Arbeiten im zweiten Stock präsentiert werden. Vervollständigt wird die Produktion des Videos durch die Mitarbeit des Schauspielers Pakkan.

Die Ausstellung endet mit einem Raum, der die Besucher*innen zum Verweilen einlädt. Hier zeigt Ehrenstein „Melody for a Harem Girl by the Sea“, die Serie „Projection Screen Studies“ sowie Assemblage-Wandarbeiten mit dem Titel „Odalisque Baddies“.
„Projection Screen Studies“ bestehen aus Hijabs, die in Tirana und Berlin gesammelt wurden. Durch abstrakte Farbfeldstudien verwandelt Ehrenstein diese kulturell und politisch aufgeladenen Stoffe in meditative Arbeiten, die an die islamische Tradition der Abstraktion erinnern. Die Werke reflektieren den Hijab als sowohl persönliches wie auch politisches Objekt, als Leinwand, auf die gesellschaftliche Projektionen geworfen werden.
„Odalisque“ fordert den historischen und neo-orientalistischen Blick zurück und verwandelt die fetischisierte Figur des Haremsmädchens von einem statischen Objekt der Begierde in eine subversive Akteurin. In dieser spielerischen Umkehrung entwirrt sich die verführerische Fantasie der Odaliske zu einer grotesken, aber verlockenden Kritik an extraktiven, kolonialen Fantasien. Die Assemblagen setzen dem historischen Fetischismus, den sie wiederbeleben, ein spielerisches „Fuck You“ entgegen.
Anna Ehrensteins Arbeit „Melody for a Harem Girl by the Sea“ ist sowohl eine Ode an den muslimischen Femme Cyborg als auch autobiografisch. Ausgelöst durch den Wahn der Solidarität in den westlichen Protesten nach den iranischen „Woman, Life, Freedom!“-Demonstrationen im Jahr 2022, materialisierte die Künstlerin ihren orientalistischen Avatar, den sie in physischen und virtuellen Performances einsetzt.

Über die Künstlerin

Die albanisch-deutsche Künstlerin Anna Ehrenstein (*1993) untersucht Formen des Wissens und ihre Konstruktion. Lebendige skulpturale und virtuelle Installationen hinterfragen vernetzte Objekte, Ideen, Gemeinschaften und Epistemologien in einer post-digitalen und neokolonialen Welt. Durch verschiedene Medien – mit einem Fokus auf Forschung und Kollaboration, untersucht sie, wie Technologie und digitale-materielle Kultur Machtverhältnisse neu formen. Ehrenstein verfolgt einen Ansatz, den sie als „prekäre Assemblage“ bezeichnet, und arbeitet intensiv mit diversen Materialien und Gruppen zusammen. Sie versteht Kritik als einen Akt der Liebe und glaubt an die radikalen Möglichkeiten spiritueller Koalitionen, Rituale, Neuroplastizität, kollektives Verlernen und ständige Erneuerung. Geboren in Deutschland als Kind albanischer Eltern mit transosmanischer Abstammung – albanisch, türkisch, kosovarisch und ägyptisch – interessiert sie sich für Konzepte der Kreolisierung, Plastizität, Mythologie, Islamische und Proto-Science-Fiction sowie für die Schnittstelle von kritischer Theorie und Popkultur.

Anna Ehrenstein studierte Fotografie und Medienkunst in Deutschland und besuchte kuratorische Kurse in Valetta (ML) und Lagos (NG), wodurch sie ihre transdisziplinäre künstlerische Praxis weiterentwickelte. Von 2023 bis 2024 war sie Gastprofessorin im interdisziplinären MFA-Programm „New Practice in Art and Technology“ zwischen der TU und UDK Berlin und lehrt derzeit als Professorin an der HGB Leipzig. In den vergangenen Jahren stellte sie unter anderem auf der Ural Biennale in Jekaterinburg, der Lagos Biennale, dem Goethe Institut NYC, bei KOW Berlin, der C/O Berlin Foundation und dem Centquatre Paris aus.