Die Ausstellung Gegen Kandinsky besteht aus vier Teilen, die jeweils eine Gegenbewegung zu Kandinskys Begriff der abstrakten Kunst beleuchten. An Hand der Metapher der » künstlerischen Spaltung « betrachtet die Ausstellung die Geschichte der abstrakten Kunst des 20. Jahrhunderts aus einem erweiterten kultur- und sozialgeschichtlichen Blickwinkel mit dem Ziel, die Parallelen zwischen der europäischen und der amerikanischen Kunst hervorzuheben. In den einzelnen Teilen der Ausstellung werden Werke von Künstlern, die entgegengesetzte Positionen vertreten, jeweils einander gegenübergestellt.
Die Entwicklung der Moderne im 20. Jahrhundert ist ohne Wassily Kandinsky nicht denkbar. In der Gemeinschaft der Künstlergruppe Blauer Reiter, während seiner Zeit in Moskau oder als Lehrer am Bauhaus in Dessau - in jeder Phase seines Lebens gab Kandinsky entscheidende Impulse und beeinflusste Generationen von Künstlern. Kandinsky gilt, auch wegen seiner kunsttheoretischen Schriften, als der Wegbereiter der abstrakten Kunst.
Die Ausstellung Gegen Kandinsky befasst sich mit dem Bruch zwischen der expressionistischen und der geometrischen Richtung der abstrakten Kunst. Diese beiden künstlerischen Positionen lieferten sich in der Geschichte der Moderne einen Dauerwettstreit um die stilistische und theoretische Vormacht . Innerhalb dieses historischen Gefüges nimmt Wassily Kandinsky als Begründer eines expressionistischen und später geometrischen Malstils und zugleich als unermüdlicher Verfechter einer intuitiven Form der abstrakten Kunst eine Sonderstellung ein.
Gezeigt werden Gemälde, Zeichnungen, dreidimensionale Konstruktionen, Bühnenbilder, Fotografien und Filme von Carl Andre, Warwara Bubnowa, Francisco Infante, Donald Judd, Wassily Kandinsky, Nikolai Ladowski, Sol LeWitt, Lydia Masterkowa, Konstantin Medunezki, Hannes Meyer, Wladimir Nemuchin, Lew Nussberg, Ljubow Popowa, Alexander Rodtschenko, Frank Stella, Wladimir Stenberg, Warwara Stepanowa. Die Ausstellung versammelt hochkarätige Leihgaben von institutionellen und privaten Leihgebern aus Deutschland, Frankreich, Russland und den Vereinigten Staaten.
Hintergründe
Die Ausstellung Gegen Kandinsky zeichnet die überaus komplexe Beziehung Wassily Kandinskys zu zeitgenössischen russischen Künstlern wie Alexander Rodtschenko und Warwara Stepanowa in den Jahren 1919 bis 1921 und zu Bauhauskollegen wie Hannes Meyer im weiteren Verlauf der 1920er-Jahre nach. Darüber hinaus dokumentiert sie weniger bekannte Aspekte der Kunst Kandinskys wie etwa die anhaltende Beschäftigung mit der Architektur. Gegen Kandinsky zeigt Neues über die Beziehung des Künstlers zur Farbe Schwarz, die er zunächst ablehnte, dann aber immer wieder in besonderer Weise einsetzte. Auch der Einfluss von Kandinskys expressiver abstrakter Malerei auf die Entwicklung der Kunst in den USA ab den 1940er-Jahren wird untersucht: In den 1950er- und 1960er-Jahren führte dieser dazu, dass Künstler wie Frank Stella und Donald Judd sich von den » altvertrauten Spuren der Persönlichkeit (expressiven Krümmungen)« zu befreien suchten. Entwicklungen dieser Art werden im Hinblick auf ähnliche Positionskämpfe innerhalb der russischen Moderne der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts betrachtet. Diese Verbindung russischer und amerikanischer Perspektiven in der Auseinandersetzung mit dem oft polarisierten Diskurs expressiver wie geometrischer Formen der abstrakten Kunst in Europa und den USA zeichnet Margarita Tupitsyns Ansatz bei dieser Ausstellung aus.
Die Ausstellung beginnt im Moskau der Revolutionsjahre, als Kandinsky zum Vorsitzenden des neu gegründeten Instituts für künstlerische Kultur (INChUK) gewählt wurde. Im Grundsatzprogramm, das er für das Institut vorlegte, forderte er eine Synthese der Künste; gleichzeitig führte er eine groß angelegte Umfrage zu den psychologischen Auswirkungen von Form und Farbe durch. Kandinskys der Moderne verpflichtete Position stieß jedoch auf Widerstand seitens einiger Konstruktivisten, z.B. Warwara Stepanowas und Alexander Rodtschenkos, die sich für eine rationalistische und möglichst unmittelbar zweckgebundene abstrakte Kunst einsetzten.
Im zweiten Teil der Ausstellung verlagert sich der Schauplatz zum Bauhaus, an dem Kandinsky nach seinem Weggang aus Russland unterrichtete. Damit setzt ein neuer Abschnitt ein, in dem sich die Kluft zwischen expressionistischer und geometrischer Praxis sowie zwischen subjektiver und kollektiver Ausrichtung noch erweiterte. In der Kunst Kandinskys hatte eine nachexpressionistische, konstruktivistisch-geometrisch geprägte Schaffensphase eingesetzt. 1928 wurde der Architekt und Mondrian-Bewunderer Hannes Meyer neuer Bauhaus-Direktor. Er vertrat einen radikalen Utilitarismus, misstraute der Malerei, machte statt ihrer die Architektur und Photographie zu Unterrichtsschwerpunkten und rückte dadurch automatisch in Opposition zu Kandinskys Theorie und Praxis.
Der dritte Teil der Ausstellung ist der Periode nach Kandinskys Tod im Jahr 1944 gewidmet, in der seine Kunst für die amerikanischen Abstrakten Expressionisten zum Leitbild des uneingeschränkten Individualismus und der »beispiellosen Direktheit« wurde. In den 1950er Jahren wurde dieses Modell der künstlerischen Praxis durch reduktivistische Tendenzen in Bezug auf Form wie Farbe abermals in Frage gestellt. Mit der Verlagerung von der Malerei auf das geometrische Objekt geriet das Prinzip der Monochromie in den 1960er Jahren, ähnlich wie ein halbes Jahrhundert zuvor die dreidimensionalen konstruktivistischen Objekte, zu einer innovativen Revision der skulpturalen Syntax.
Der vierte und letzte Teil von Gegen Kandinsky führt wieder zurück nach Moskau: Anfang der 1940er Jahre malte Alexander Rodtschenko das Bild Expressiver Rhythmus , dessen expressionistischer Stil eindeutig gegen das Diktat des Sozialistischen Realismus verstieß und aus heutiger Sicht an die Malerei eines Jackson Pollock erinnert. Erst gegen Ende der 1950er Jahre wich eine erste Generation sowjetischer Künstler von der offiziellen Linie ab und wandte sich einer der Moderne verpflichteten abstrakten Kunst zu, die sich alsbald wieder in eine expressionistische und eine geometrische Tendenz aufspaltete. Damit kehrt die Ausstellung Gegen Kandinsky zum Schlussakt wieder an ihren geographischen Ausgangspunkt zurück.
Zur Ausstellung
"Damals war Franz Stuck >der erste Zeichner Deutschlands<, und ich ging zu ihm - leider nur mit meinen Schularbeiten. Er fand alles ziemlich verzeichnet und riet mir, in der Zeichenklasse der Akademie ein Jahr zu arbeiten. Ich fiel bei der Prüfung durch, was mich nur geärgert, aber gar nicht entmutigt hat: es wurden bei dieser Prüfung Zeichnungen gut geheißen, die ich mit vollem Rechte dumm, talentlos und ganz ohne jede Kenntnis fand. Nach einem Jahr der Arbeit zu Hause ging ich zum zweiten Mal zu Franz Stuck - dieses Mal nur mit Entwürfen zu Bildern, die ich noch nicht fertig malen konnte und mit einigen Landschaftsstudien. Er nahm mich in seine Malklasse auf, und auf meine Frage wegen meiner Zeichnung, bekam ich zur Antwort, sie sei ausdrucksvoll. Stuck stellte sich schon bei meiner ersten Arbeit auf der Akademie energisch gegen meine >Extravaganzen< in der Farbe und riet mir, erst schwarzweiß zu malen, um nur die Form zu studieren." Wassily Kandinsky
Von allen Künstlern, die beim Münchner Malerfürsten und Sezessionisten Franz von Stuck studierten, ist Wassily Kandinsky ohne Zweifel der berühmteste und einflussreichste. Das in Stucks architektonischem Gesamtkunstwerk untergebrachte Museum Villa Stuck ist daher der passende Ort für eine Ausstellung, die den Kontroversen und künstlerischen Debatten um das Werk Kandinskys gewidmet ist. Die russisch-amerikanische Kuratorin Margarita Tupitsyn, im Jahr 1999 Fellow der »Société Kandinsky«, hat eine Ausstellung konzipiert, die den Einfluss von Kandinskys künstlerischem Denken und Schaffen im Lauf des 20. Jahrhunderts in dessen russischer Heimat, in Deutschland und den Vereinigten Staaten aus neuen, überraschenden und aufschlussreichen Perspektiven beleuchtet.
Zwei Weltkriege, der jahrzehntelang andauernde Kalte Krieg der Ideologien, politische Verfolgung und Auslöschung, Verfemung und Unterdrückung von Entwicklungen in der Kunst sowie von Kunstwerken haben zu Brüchen im Diskurs der Moderne des 20. Jahrhunderts geführt. Seit Anfang der 1990er-Jahre, also nach der »Wende« von 1989, hat das Museum Villa Stuck eine Reihe von Ausstellungen organisiert, die versuchten, Kunstgeschichte von ideologischen Denkschemata zu befreien. Drei dieser Ausstellungen waren der Geschichte der Kunst in der Sowjetunion gewidmet: Ingenieure der Seele: Sowjetische Malerei des Sozialistischen Realismus, 1930-1970 (1993), Die Avantgarde und die Ukraine, 1910-1936 (1993) und Tyrannei des Schönen: Architektur der Stalin-Zeit (1995). Weitere Ausstellungen rückten vergessene Geschichten der Moderne in außereuro-päischen Ländern während einer Zeit des Widerstandes gegen Fremdherrschaft und des Strebens nach politischer und kultureller Unabhängigkeit in den Blickpunkt: The Short Century: Independence and Liberation Movements in Africa 1945-1994 (2001/02) und Shanghai Modern 1919-1945 (2004/05). Unabhängig vom jeweiligen geografischen und kulturellen Kontext stand bei diesen Ausstellungen jedes Mal die Frage im Mittelpunkt, ob eine politisch ausgerichtete Kunst, die als »nationale Kunst« verstanden werden will, dies am ehesten mit den Mitteln der Figuration, also der Darstellung von Menschen, oder über die ideale Dimension des Abstrakten erreicht. Die Komplexitäten dieser Debatte wurden auch in jüngerer Zeit in Ausstellungen des Museums Villa Stuck wiederholt thematisiert, so in Theo van Doesburg: Maler-Architekt (2000), Art of Tomorrow: Hilla von Rebay und Solomon R. Guggenheim (2005 / 06), Stunde 0: Rupprecht Geiger und Hilla von Rebay (2005) und Gruppe SPUR (2006).
Die derzeitige Ausstellung Gegen Kandinsky betrachtet die wesentlichen Aspekte der künstlerischen Theorie und Praxis Kandinskys im Kontext seines sich über mehrere Länder und verschiedene Kontinente erstreckenden Wirkens en detail. Zugleich stellt sie eine logische Fortsetzung und eine entscheidende Bereicherung dieser Reihe dar. Gegen Kandinsky zeichnet die Wege Kandinskys und seiner Ideen nach: von Russland nach Deutschland, von dort zurück nach Russland und anschließend wieder nach Deutschland, bis das NS-Regime den Künstler zur Flucht nach Frankreich zwang. Untersucht wird zudem, wie seine künstlerischen Ideen in den USA aufgenommen wurden und von dort schließlich in verarbeiteter Form in den Werken amerikanischer Künstler wieder zurück nach Russland fanden, nachzuverfolgen 1959 in der ungemein einflussreichen Nationalen amerikanischen Ausstellung in Moskau.