Das Nachwuchsförderungsprojekt »gute aussichten - junge deutsche fotografie« wurde 2004 ins Leben gerufen. Kerngedanke ist ein jährlich stattfindender Wettbewerb für Abschlussarbeiten aus allen deutschen Hochschulen, Fachhochschulen und Akademien, die einen Studiengang Fotografie anbieten. Laut SPIEGEL ist gute aussichten »Deutschlands renommiertester Wettbewerb für junge Fotografen«, der sich immer mehr zu einer »ständigen Vertretung der jungen Fotografie« entwickelt.
Aus den eingereichten Arbeiten wählt eine namhaft besetzte Jury die Preisträger/innen aus, die anschließend in umfangreichen Ausstellungen und einem begleitenden Katalog der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Preisträger/innen des Wettbewerbs 2013/14 sind Nadja Bournonville, Anna Domnick, Birte Kaufmann, Lioba Keuck, Alwin Lay, Marian Luft, Stephanie Steinkopf, Daniel Stubenvoll und Christina Werner.
Das Museum Villa Stuck nimmt 2014 zum ersten Mal an gute aussichten teil und holt diese seit zehn Jahren mit großem Erfolg laufende Ausstellung erstmals nach München. gute aussichten will eine Brücke schlagen zwischen jungen, noch weitgehend unbekannten Künstlern und all jenen, die Fotografie begeistert, die fotografische Werke sammeln, ausstellen, verwerten oder einfach gerne anschauen.
Exakt 100 Arbeiten aus 33 Institutionen erreichten den Wettbewerb 2013/2014. Die Jury bestand aus: Dr. Wibke von Bonin (Köln), Kulturjounalistin und Kunsthistorikerin, Verena Hein (München), Kuratorin und Leiterin der Ausstellungen im Museum Villa Stuck, Mario Lombardo, Art Director, Bureau Lombardo (Berlin), Josefine Raab (Neustadt/Weinstraße), Kunstwissenschaftlerin und Gründerin von »gute aussichten«, Luminita Sabau (Frankfurt/Main), ehemalige Leiterin der Kunstsammlung der DZ Bank, Hans-Christian Schink (Berlin), renommierter Fotograf, sowie Ingo Taubhorn, Kurator am Haus der Photographie, Deichtorhallen (Hamburg).
Josefine Raab, die Initiatorin von gute aussichten, beschreibt die diesjährige Auswahl wie folgt: »Im zehnten Jahr seines Bestehens präsentiert gute aussichten eine inhaltliche, ästhetische, mediale und formale Bandbreite, wie sie die junge deutsche Fotografie selten geboten hat. Ein Spektrum, überraschend vielfältiger Ideen, Überlegungen und fotografischer Strategien, formaler wie medialer Umsetzungen, die nicht nur den aktuellen Status Quo abbilden, sondern auch als Inspirationsquelle dienen dürfen. Und doch ist es so, dass es in all dieser Vielfalt ein geradezu verblüffend verbindendes Element gibt: Das Nicht-Erfüllen von Erwartungen, das Nicht-Einlösen von Versprechen, das Nicht-Einhalten von Konventionen, das Nicht-Geschehen des Vorhersehbaren, das Nicht-Sein des Geahnten, des Da-Seins zieht sich durch die neun Arbeiten wie ein roter Faden. Hoffnungen werden enttäuscht, physikalische Gesetzmäßigkeiten außer Kraft gesetzt, mediale Grenzen überschritten und Sehgewohnheiten auf den Kopf gestellt. Nichts ist so, wie es scheint. Und doch so, wie es ist.«
Preisträger/innen 2013/2014
Nadja Bournonville, A Conversion Act
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
Ausgangspunkt der Arbeit von Nadja Bournonville ist das Krankheitsbild der Hysterie und der Begriff der Konversion (lat. conversio: Umwendung, Umkehr). In »A Conversion Act« greift Bournonville den Gedanken der Umwandlung von seelischen Vorgängen in das Körperliche auf und entwirft zwei einander ergänzende Serien. Für die »Medical Machines« fertigt die Künstlerin aus Alltagsgegenständen eine Reihe von surreal anmutenden Gerätschaften, die an medizinische Apparaturen früherer Zeiten erinnern. Diese Kleinformate, in denen die aus heutiger Sicht brachialen Behandlungsmethoden seelisch Erkrankter gewissermaßen ad absurdum geführt werden, kontrapunktiert die Künstlerin mit großformatigen, szenographisch angelegten Einzelbildern. In deren bildnerischem Repertoire klingen Ausdrucksformen und Ikonografie sowohl symbolistischer, dadaistischer als auch surrealistischer Kunst an. Der Betrachter sieht sich in anspielungsreiche, unserer greifbaren Wirklichkeit völlig entrückte Bildräume versetzt, die uns in eine assoziativ aufgeladene, magisch wie grotesk anmutende Traumwelt führen.
Anna Domnick, Calm II
Fachhochschule Bielefeld
In ihrer zehnteiligen Serie »Calm II« setzt sich Anna Domnick mit der Visualisierung einer geistigen wie materiellen Auflösung auseinander. Die intensive Betrachtung von Landschaft, die sie selbst als autobiografisches Moment in ihre künstlerische Arbeit hineinträgt, transformiert sich in »Calm II« zu einer weitestgehenden Abstraktion des konkreten Motivs. In fünf minimal variierten Landschaftsbildern gibt ein radikal tief liegender Horizont den Blick frei in die Weite des sich darüber wölbenden Himmels. Gepaart werden diese Bilder mit Körperbetrachtungen einer weiblichen Figur – zwei Rückenakte angeordnet als Diptychon, zwei Hautbilder und eine sich im Schwarz verlierende Kontur. In den abwechselnden Bildfolgen von Landschaft und Körper visualisiert Anna Domnick den für sie wechselseitigen Prozess, in dem geistige und physische Auflösung einander bedingen. Beide – Landschaft wie Körper – gerinnen zu einer Vision der Entgrenzung von Körper und Geist.
Birte Kaufmann, The Travellers
Ostkreuzschule für Fotografie
Die Pavee, wie die Traveller offiziell genannt werden, sind laut Wikipedia »eine als fahrend beschriebene soziokulturelle Gruppe Irlands«. Die Landfahrer leben in Familienclans, sprechen eine auf das Gälische zurückgehende eigene Sprache und werden – wie alle nomadischen Völker – von den jeweiligen Einwohnern und Behörden argwöhnisch beäugt. »Kesselflicker« (tinker) ist eine auch im deutschen Sprachraum negativ konnotierte Bezeichnung für Landfahrer. In früheren Zeiten lebten auch die irischen Traveller davon, Kessel und andere Gebrauchsgeschirre zu flicken, Pferde zu beschlagen oder Messer zu schleifen. Diese Arbeitsfelder sind mit dem Einzug moderner Zeiten jedoch nahezu von der Bildfläche verschwunden. Heute kann eine große Zahl der Pavee in Irland und England nach wie vor nicht lesen oder schreiben und lebt, neben der Pferdezucht, von Sozialhilfe. Die Traveller sind eine geschlossene Gesellschaft mit eigenen Regeln und Traditionen. Birte Kaufmann hat sich mit großer Ausdauer Zugang zu einigen, ihrerseits äußerst misstrauischen Familien erarbeitet und ihre Fotografien, die zwischen Dokumentation, Narration und Inszenierung schwingen, gewähren einen authentischen Einblick in eine uns verborgene Welt.
Lioba Keuck, Couve e Coragem
Fachhochschule Dortmund
»Kohl und Mut« – was aus dem Portugiesischen ins Deutsche übersetzt beinahe wie eine sozialistische Arbeitsparole klingt, beschreibt die Lebensrealität von Menschen, die am Rande der Gesellschaft oftmals um ihr schieres Überleben kämpfen. Häufig sind es Emigranten aus ehemaligen Kolonien Portugals (wie z.B. Angola, Mosambik, Brasilien oder den Kapverden), die in trostlos wuchernden Siedlungen in der Peripherie Lissabons wohnen. Auf den sie umgebenden Brachflächen haben sie damit begonnen, den Boden urbar zu machen, um ihre kärglichen Einkünfte mit selbstgezogenem Gemüse aufzubessern. Lioba Keuck hat für »Couve e Coragem« in den Armutsgürteln der Hauptstadt recherchiert, die Menschen nach ihren Geschichten befragt. In einer Mischung aus Texten, Portraits, künstlerischen und dokumentarisch anmutenden Fotografien verdichtet sich visuell der Versuch von Menschen, ihren Lebensverhältnissen eine in mehrerer Hinsicht positive Perspektive abzugewinnen: Die Arbeit in und mit der Erde verschafft ihnen nicht nur ein soziales Miteinander und die Aufbesserung ihrer Mahlzeiten, sondern vermittelt Sinn und Bestätigung – etwas, das sie in einem Milieu von Arbeitslosigkeit oder bestenfalls schlecht bezahlter Hilfsarbeit selten bis gar nicht erfahren.
Alwin Lay, mod. CLASSIC
Kunsthochschule für Medien Köln
Von nichts kommt nichts, könnte das Motto von Alwin Lay sein, oder auch: Es passiert nicht immer, was geschehen müsste, aber doch jede Menge. »mod. CLASSIC« ist der Name einer kleinen Siebträger Espressomaschine, die die italienische Firma Gaggia Ende der 1970er Jahre auf den Markt brachte. Alwin Lay hat sich den Titel geborgt, denn bei ihm wird die Espressomaschine zum Sinnbild seines Schaffens. Eingebaut in eine durchsichtige Vitrine ertrinkt die »mod. CLASSIC« in ihrem eigenen Espresso. Übrig bleibt ein schwarzer Kubus mit kräftig Crema obenauf und ein Büchlein, eine gefakte Bedienungsanleitung der Gaggia, die das »Ertrinken« der Maschine Bild für Bild dokumentiert. Die ursprünglich ebenso ästhetische wie verkäuferische Präsentation der Maschine wird, alleine durch die Produktion des Cafes, ihrer Funktion enthoben und löscht so auch das Bild, das wir von ihr haben. Das Nicht-Erfüllen von Erwartungen, das Nicht-Einlösen tradierter Handlungs- und Betrachtungsmuster ist das Thema von Alwin Lay. Ob installativ, skulptural, fotografisch oder in Videos umgesetzt, immer überrascht er den Betrachter auf eine sinnige, humorvolle Art und Weise, eben ganz »mod. CLASSIC«-mässig.
Marian Luft, Back2Politics
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
»Wenn keine Revolution herrscht, muss man sie eben herstellen«, übertitelte »Die Zeit« (26.11.2011) einen Artikel zu einer Studie über die Zeitschriftenreihe »Kursbuch« von Hans Magnus Enzensberger. Was sich als Reminiszenz zu Enzensberger legendärer Rede anlässlich der Pariser Aufstände im Juli 1968 liest, könnte - mit einem zwinkernden Auge - auch für Marian Luft und seine mehrteilige Serie »Back2Politics« gelten: In einer Zeit, in der (zumindest in Deutschland) gerade keine Revolution in Sicht ist, muss bzw. kann man, zumindest als Künstler, jederzeit eine anzetteln. »Das Politische als Akt der Umschreibung eines Zustandes in einen Anderen« so ein ebenso vager wie vieldeutiger Erklärungsansatz des Urhebers – lässt uns relativ im Dunklen tappen. Betrachten wir das Werk, so stehen wir vor einer mehrteiligen, aus großformatigen Bildern bestehenden Rauminszenierung, die in allen Teilen inhaltlich wie apparativ dem Computer entspringt. Marian Luft sampelt Inhalte analog zu zeitgenössischer Kunst- und Kulturproduktion und generiert daraus ein gänzlich eigenständiges ästhetisches Produkt. So bedient er sich beispielsweise für »Funtasies«, einem Digitalprint auf Plexiglas mit programmiertem LED Panel, bei den privat eingestellten Bilderströmen des tumblr Netzwerkes. Aus 310 000 Einzelbildern baut er sein »Tumblr Transparent«, einen multicoloren Flickenteppich aus Bilderschnipseln und in dem Monumentalprint »The Aesthetic of the Political« sieht sich der Betrachter einer azurblauen Fläche gegenüber, deren Zentrum eine explosionsartig auseinanderstiebende Fläche digitaler Kritzeleien darstellt – eine wilde, inkohärente Ansammlung »politischer Schmierereien« (Marian Luft), deren Nicht-Inhalt durchaus als Analogie auf eine herrschende politische Un-Kultur gelesen werden darf.
Stephanie Steinkopf, Manhattan – Straße der Jugend
Ostkreuzschule für Fotografie
Mitten im Grünen zwei Plattenbauten: was zu DDR-Zeiten begehrte Wohnungsangebote waren, ist nach der Wende gänzlich aus der Mode gekommen. »Manhattan« nennen die Dorfbewohner mitten in Brandenburg die so unvermittelt in die idyllische Landschaft hineinragenden mehrstöckigen Häuser. »Straße der Jugend« steht auf dem Schild jener Straße, die direkt an den Wohnblöcken vorbeiführt.
23 Jahre nach der Wende steht ein Gebäude komplett leer, im zweiten Bau sind zwölf von vierzig Wohnungen noch bewohnt. Wer konnte, hat die Behausungen verlassen. Über vier Jahre hinweg besuchte Stephanie Steinkopf immer wieder bestimmte Familien und erwarb sich allmählich das Vertrauen der Bewohner. In ihrem fotografischen Essay ist Steinkopf mittendrin im fremden Leben. Eingezwängt in engen, verwohnten Zimmern mit klapprigem Mobiliar, zwischen Sofakissen, Plüschtieren, Plastiktannenbaum, Salami aus der Packung und Bier aus der Dose. Hier essen und schlafen, lieben und hassen, streiten und feiern die Menschen. Der ganz normale Wahnsinn. Noch nicht einmal der Blick aus dem Fenster verschafft wirklich Luft. Stephanie Steinkopfs Bilder sprechen von nicht eingelösten Hoffnungen, von Agonie, Trostlosigkeit und Sozialhilfe – Zustände, die nicht nur weite Teile Ostdeutschlands betreffen, sondern für viele strukturschwache Gegenden gelten und die glanzlose Kehrseite der Wirtschaftsmacht Deutschland in den Fokus rücken.
Daniel Stubenvoll, Saubere Arbeit
Kunsthochschule Kassel
Daniel Stubenvoll scheut sich nicht nach dem Wesentlichen zu fragen: Woher kommt das Neue und wie entsteht es? Im Keller seiner Hochschule findet er eine zugeflüsterte, vermeintliche Antwort: Alles beginnt mit einem Grundstein – der ist das Fundament einer jeden Arbeit und wird von ihm fotografisch ins Bild gesetzt. Die Arbeit muss, da ist Daniel Stubenvoll sich sicher, »sauber« sein, einem Bauwerk gleichen. Also stiftet er elf seiner Kommilitonen – unterschiedlicher künstlerischer Disziplinen – dazu an, ein Werk über diesen Grundstein zu machen. Aus diesen Werken kuratiert Stubenvoll, zusammen mit seiner eigenen Grundstein-Fotografie, eine fiktive Ausstellung und ein echtes Künstlerbuch, in dem der Entstehungsprozess, die Grundstein-Werke und die Ausstellung dokumentiert werden. Diese elf neuen Grundsteine dienen Daniel Stubenvoll dann als Ausgangspunkt und Inspirationsquelle für seine »Saubere Arbeit«. In der er, die Bilder seiner Künstlerkollegen zitierend, seine eigenen Bilder aus und mit den fremden zusammensetzt und fotografiert. So werden wir, Stück für Stück, Zeuge einer Genese, die sich im Verlauf ihrer Werdung mit dem produktiven Scheitern am eigenen Bild und den Stärken der Fotografie auseinandersetzt.
Christina Werner, PIPAL
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
»Deutschland und Indien 2011–2012: Unendliche Möglichkeiten!«, so der Name eines vom Goethe-Institut in Neu-Dehli initiierten Projektes, an dem Christina Werner teilnahm. Aus den »unendlichen Möglichkeiten« suchte sich die Fotografin das »Sabarmati Riverfrontproject« in Ahmedabab, einer aufstrebenden Metropole im Bundesstaat Gujarat im Westen Indiens aus. Das »Riverfrontproject« ist eine infrastrukturelle Maßnahme einer wirtschaftlich expandierenden Region, mit dem Ziel, das Flussufer zu beleben und für die Menschen nutzbar zu machen. »PIPAL« von Christina Werner umfasst sechs so genannte »Betonbilder«, zwölf Snapshots, eine Herbariumskassette mit Blättern der Pappelfeige (Pipal), eine MDF-Platte, in die mehrere, zu beiden Seiten des Flusses liegende Stadtteile gefräst wurden, bilden ein Raumensemble. Christina Werners Installation beschreibt und ist Promenade in einem: die Betonbilder, die gestrichene Holztafeln zeigen, auf denen später Plakate montiert wurden, referieren sowohl auf den Werkstoff moderner Architektur als auch auf die Farbfeldmalerei. In der Kassette liegen die Blätter des Pipal-Baumes, die Werner auf ihrem Gang an der Promenade entlang gesammelt hat und das rasche Wachstum der Stadt symbolisieren. In den »snap-shots« vertextet die Künstlerin ihre Eindrücke und die MDF-Platte verortet ihren Weg in der Topographie des Geländes. Die gesamte Installation wiederum ist lesbar als Metapher für die kulturgeschichtlich geprägte Entwicklung vom Kolonial- zum Nationalstaat und so schließt sich der inhaltliche Kreis.
Texte: Josefine Raab
Katalog
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Zu »gute aussichten - junge deutsche fotografie/new german photography 2013/2014« ist ein gleichnamiger Katalog (Deutsch/Englisch) erschienen, herausgegeben von Stefan Becht und Josefine Raab, 224 Seiten, durchgehend vierfarbig, ca. 300 Abbildungen, ISBN 978-3-86895-001-4.