Helen LevittPhotographien -

Helen Levitt: New York City, um 1942, Silber Gelatine, 28 x 35,5 cm, Foto: DG Bank
Helen Levitt: New York City, um 1942, Silber Gelatine, 28 x 35,5 cm, Foto: DG Bank

"Die Ästhetik", weiß Helen Levitt, "ist bereits in der Wirklichkeit vorhanden." Auf der "documenta X" im vergangenen Jahr wurde die US-Künstlerin als die Entdeckung gefeiert. Auf ihren Streifzügen durch die Straßen der Lower East Side und Harlem schuf die Photographin in den 30er und 40er Jahren zeitlose Portraits der Menschen in ihrer Heimatstadt New York. Abseits von 5th Avenue und Broadway zeigt sie ein anderes Bild Amerikas.

Die Werkschau "Helen Levitt" zeigt an die achtzig Bilder aus einem halben Jahrhundert. Daß dieser Querschnitt durch Helen Levitts Oevre jetzt erstmals ausgestellt werden kann, ist besonders der DG BANK Kunstförderung in Frankfurt zu danken.

Die inzwischen 85jährige zählt zu jenen Photographen, deren "Street-Photographie" in größter Nähe zur Ästhetik Henri Cartier-Bressons steht. Wie für den Altmeister, so war auch für die Photoautorin, die Philosophie des "entscheidenden Moments" Richtschnur ihres Schaffens. Bei ihrer Arbeit formt sie nicht, arrangiert nicht und greift nie in die Situation ein. Trotzdem wirken alle ihre Aufnahmen perfekt komponiert. Einfühlsam, jedoch nie sentimental, beobachtet Helen Levitt das Spiel der Kinder und Jugendlichen auf der Straße.

Biographie

Helen Levitt wird 1913 als Tochter jüdischer Eltern in Brooklyn geboren. Einen Monat vor Abschluß verläßt sie 1930 die High School und beginnt 1931 für einen Portraitphotographen im Stadtteil Brooklyn zu arbeiten. Sie besucht die Photo League und kann dort auch die Dunkelkammer benutzen. In dieser Zeit trifft sie auf Willard Van Dyke, Ben Maddow sowie andere Photographen. Beeinflußt jedoch wird sie von Henri Cartier-Bresson. Intensiv beschäftigt sich Helen Levitt damals mit Kunst, Tanz und ausländischen Filmen.

1936 kauft sie sich eine leichtgewichtige Leica. Damit macht sie nun alle ihre Aufnahmen und fängt an auf der Straße zu photographieren. Im Rahmen des Federal Art Project unterrichtet sie ein Jahr später Kinder in East Harlem. Erstmals photographiert sie nun Kinder beim Spielen.

Helen Levitt gehört zur New Yorker Boheme. 1938 zeigt sie Walker Evans und dem Schriftsteller James Agee, mit dem sie auch befreundet ist, einige ihrer Photographien. Sie hilft Evans seine Ausstellung "American Photographs" im Museum of Modern Art vorzubereiten.

1941 reist sie mit Agees Frau Alma nach Mexiko. Nach ihrer Rückkehr arbeitet sie als Cutterin bei dem surrealistischen Regisseur Luis Buñuel. Buñuel macht zu jener Zeit Filme, die vom Museum of Modern Art, New York, gefördert werden.

Zwei Jahre später, nämlich 1943, hat Helen Levitt ihre erste Einzelausstellung im Museum of Modern Art. Von 1944 bis 1945 arbeitet sie als „assistant editor" in der Film Division of the Office of War Information (OWI) in New York.

Da sie im Fotojournalismus für sich selbst keine Berufsaussichten sieht, wendet sie sich mehr dem Dokumentarfilm zu. „In the Street", so der Titel ihres ersten fünfzehnminütigen Filmes von 1944. Er stellte auf gewisse Weise eine kinematographische Umsetzung ihrer photographischen Arbeit dar. Gleichzeitig ist er bahnbrechend für eine neue Tendenz des amerikanischen Experimentalfilms. Drei Jahre später entsteht der Streifen „The Quiet One", den sie in Zusammenarbeit mit James Agee und der Malerin und Kunsthistorikerin Janice Loeb dreht. „The Quiet One" erzählt von den Schwierigkeiten eines schwarzen Kindes und wird 1948 als bester Dokumentarfilm für den Oscar nominiert. Levitts Filme gelten als Vorläufer des unabhängigen Low-Budget-Kinos.

In den 50er Jahren kehrte sie zur Photographie zurück und beginnt in Farbe zu arbeiten. 1959 und 1960 erhält sie jeweils eine Guggenheim Fellowship. Mitte der 70er Jahre beginnt sie am Pratt Institute, Brooklyn zu unterrichten. In den 80er Jahren wendet sie sich erneut der Schwarzweißphotographie zu. Sie wohnt heute in New York.

Zur Ausstellung

Helen Levitt geht niemals mit dem sozialen Elend hausieren. Vielmehr zeigen ihre Bilder welche Ausstrahlung und Vitalität ihre Mitmenschen besitzen. Ihre Gesten, die gesamte Körpersprache, die Helen Levitt mit ihrer Kamera einfängt, vermitteln etwas Tänzerisches. Die Straße, der Geh-steig sind Teile einer Bühne, auf der sich die Akteure ihrer Bilder bewegen. Alles ist in Bewegung.

Doch so sehr das einzelne Bild von Spontanität und dem Zufall auch geprägt ist, die Ausgewogenheit, dramaturgische Kontrolle und formale Ordnung ist trotzdem vorhanden. Hier greift das Prinzip des Ñentscheidenden Moment". Bei vielen Arbeiten läßt sich spekulativ nachweisen, wie sehr sich die komplexe Erzählstruktur einseitig verändern würde, hätte Helen Levitt später oder früher auf den Auslöser gedrückt.

Stolz lächelnd eilt ein Mädchen an ihrer schwangeren Freundin vorbei. Zwei Milchflaschen drückt sie an ihre Brust. Wer dieses Foto von Helen Levitt sieht, erinnert sich unwillkürlich an ein anderes: nämlich Henri Cartier-Bressons Bild des kleinen Jungen mit den großen Weinflaschen unterwegs am frühen Abend nachhause, stolz auf die ihm zugewiesene Aufgabe. In beiden Bildern entfaltet sich assoziativ-poetisch eine komplexe Erzählung.

Fünf Seifenblasen schweben seitwärts über die Straße. Eine Gruppe von schwarzen und weißen Mädchen schaut ihnen nach.

Bei aller Poesie ihrer Bilder wird stets deutlich: Helen Levitt verklärt und idealisiert die Kindheit nicht. Sie begreift sich weder als Soziologin noch als Dokumentaristin. Vielmehr beobachtet sie die Tragödien, die Spiele und Gruppenbildung, der auf sich gestellten Kinder, ihre Sehnsucht, Isolierung ebenso wie Nähe und Zuneigung.

Ein frühes Motiv zeigt einen fröhlichen Blickwinkel: New York Sommer 1937. Die Hitze brütet über dem Asphalt. Halbbekleidete Jugendliche öffnen übermütig einen Wasserhydranten. Meterweit spritzt die weiße Gischt. Fast scheint es als entstünden die extremen Schwarzweißkontraste wie von selbst aus dem Dickicht der Städte.

Mit ihrer Farbphotographie in den siebziger und achtziger Jahren nähert sich Helen Levitt eher kuriosen Motiven. Ihr Humor und ihr Gespür für das Absurde kommt zum Tragen. Ein Hahn stolziert über den Bürgersteig vorbei an einem Kaugummi-Automaten. Der Hintergrund ist verstellt von aufdringlicher Werbung. In den vergangenen Jahren arbeitet sie in Farbe und schwarzweiß. Dabei stehen als Motive Bilder aus dem East Village und der Lower East Side im Vordergrund.

Die Ausstellung umfaßt 74 Schwarzweiß - sowie Farbphotographien. Im Rahmen der Ausstellung führen wir außerdem Helen Levitts ersten Dokumentarfilm von 1944 mit dem Titel ÑIn the Street" vor.

Katalog

74 Schwarzweiß- und Farbabbildungen, herausgegeben von Peter Weiermair. Beiträge in deutscher Sprache von James Agee und Peter Weiermair. Prestel-Verlag, München, New York