In der ersten großen Museumsschau seit der Aufarbeitung seines Nachlasses zeigt das Museum Villa Stuck das außergewöhnlich vielseitige Werk des amerikanischen Fotokünstlers Mark Morrisroe (1959-1989). Meist präsentiert in Gruppen- und Themenausstellungen, ist Morrisroe bisher vor allem bekannt in Zusammenhang mit seinen Bostoner Kollegen Nan Goldin und David Armstrong.
Mark Morrisroes kurze Schaffenszeit war geprägt von einem erstaunlichen Output fotografischer Experimente und zeichnete sich in allen Schaffensphasen durch eine individuelle Ästhetik aus. So dachte er sich in verschiedene mediale Möglichkeiten und deren inhärente Grenzen hinein und eignete sich dafür ausgeklügelte Abzugsverfahren an. Schon früh verstand Morrisroe seine Fotografien als eigenständige Bildobjekte, die er nach Belieben verfremdet, koloriert, bemalt und beschriftet hat.
In der lebendigen Bostoner Punk- und Kunstszene der frühen 1980er Jahre war Mark Morrisroe unter dem Namen »Mark Dirt« eine charismatische und weithin bekannte Figur. Noch vor seinem Kunststudium produzierte er in den Jahren 1975 und 1976 zusammen mit Lynelle White das kopierte Dirt-Magazin. Mit Stephen Tashjian, alias Tabboo!, trat er als Drag-Queen-Duo »The Clam Twins« in einschlägigen Clubs auf. Vor allem kreiste Morrisroes Schaffen aber um das lebenshungrige und von Extremen geprägte Leben, das er mit Freunden, Liebhabern und Weggefährten teilte, und in ebenso intimen wie experimentellen Bildern festhielt. Bereits im Juli 1989 starb er mit nur 30 Jahren an den Folgen von Aids.
In der Ausstellung werden frühe Farb- und Schwarz-Weiß-Abzüge, Ausstellungskopien der lichtempfindlichen Polaroids sowie vom Künstler per Hand bearbeitete Abzüge von Polaroidnegativen und Fotogramme gezeigt, insgesamt über 300 Arbeiten. Besondere Aufmerksamkeit verdienen d ie ab 1982 entstandenen Sandwich-Prints, oftmals Porträts und Aktaufnahmen sowie Stillleben und Stadtlandschaften, die in ihrer gedämpften, samtenen Farbigkeit Ähnlichkeiten mit frühen Fotografien des 19. Jahrhunderts aufweisen.
Bereits 2008 zeigte das Museum Villa Stuck in der Ausstellung »True Romance. Allegorien der Liebe von der Renaissance bis heute« Arbeiten Morrisroes. Mit der Ausstellung setzt das Museum Villa Stuck seine Reihe von Fotoausstellungen fort, in denen es um die Präsentation und Erforschung des künstlerischen Umgangs mit diesem Medium geht, darunter »HAARE. Fotografien von Herlinde Koelbl« (2008) und »Street Life and Home Stories. Fotografien aus der Sammlung Goetz« (2011).
Zu Leben und Werk
Morrisroes Biographie ist zugleich schillernd und widersprüchlich. Er liebte es, Geschichten um seine Herkunft mit haarsträubenden Anekdoten auszuschmücken. So behauptete er zum Beispiel, Sohn des berüchtigten Boston Stranglers zu sein. Mit 16 Jahren zog er von zu Hause aus und prostituierte sich, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Bei einer Auseinandersetzung mit einem Freier wurde er durch eine Schusswunde lebensbedrohlich verletzt und hinkte fortan auffällig. 1985 zog Morrisroe Richtung New York, um dort sein Glück zu versuchen. Ein Jahr später wurde er HIV-positiv getestet. Die Krankheit führte in seiner künstlerischen Praxis zu neuen abstrakten Selbstbildern. Im Juli 1989 starb er mit nur 30 Jahren an den Folgen von Aids.
Morrisroe experimentierte bereits während seines Kunststudiums an der School of the Museum of Fine Arts Boston (1978-1982) mit verschiedenen Interpretationen von Vervielfältigung, dachte sich in mediale Möglichkeiten und deren inhärente Grenzen hinein und verwendete verschiedene ausgeklügelte Abzugsverfahren für seine fotografischen Abzüge. Die sogenannten »Sandwich«-Prints, Vergrößerungen von übereinander montierten Doppelnegativen des gleichen Sujets , führten zu einer komplexen, im Resultat ikonisch wirkenden Bildlichkeit. Hergestellt wurden sie in einer aufwendigen Prozedur, bei der Morrisroe das ursprüngliche Farbnegativ auf einen Schwarz-Weiß -Film kopierte, die beiden Negative aufeinander fixierte und sein Fotopapier durch dieses Negativ-»Sandwich« hindurch belichtete. Gebrochen wird diese Ästhetik durch Spuren einer gewollt auffälligen Retusche in kontrastierenden Farbtönen und ungestüme Schriftzüge auf dem Papierrand: Morrisroe integrierte Titel, Datierung und Edition in das Werk.
Retrospektiv sind Morrisroes Kunststudium in Boston und seine Jahre in der Punk- und Kunstwelt dieser Stadt wohl als seine zufriedenste und produktivste Zeit zu sehen. Hier entdeckte er einen positiven Zugang zu seiner Sexualität und fand mit Jonathan »Jack« Pierson seine erste große Liebe, die in vielen seiner Fotografien und Polaroids zu sehen ist. Hier entstanden die ersten intimen Porträts von Vertrauten wie Lynelle White, mit der er 1975/76 fünf Ausgaben des collagierten, kopierten und kolorierten Dirt-Magazins herausgab sowie viele seiner ersten selbstverliebten Inszenierungen vor der Kamera. Hier drehte Morrisroe in Anlehnung an sein Idol John Waters, mit Pia Howard als Hauptdarstellerin, den Low-Budget-Trashfilm Nymph-O-Maniac.
Allen Überlieferungen nach war Mark Morrisroe getrieben vom Wunsch nach Ruhm und Anerkennung. Rastlos und fordernd – immer auch sich selbst gegenüber. Sein Leben und sein Werk sind bis zum Ende, bis zu den in der provisorisch eingerichteten Dunkelkammer seines Krankenhauszimmers fieberhaft produzierten und selten gezeigten Fotogrammen, Zeugnis einer entgrenzten und rauschhaften Suche nach einer sinnlichen, ästhetischen und immer ambivalent aufgeladenen Bildwelt. So einnehmend, manchmal auch laut und verstörend sein Auftreten in der Öffentlichkeit und gegenüber Freunden sein konnte, so leise wurde es nach seinem Tod – um ihn und seine Fotografie.
Pat Hearn, Morrisroes Freundin aus Studienzeiten und spätere Galeristin, verwaltete den Nachlass ab 1989 mit großem Engagement. Doch im Jahr 2000 verstarb auch sie als einfühlsame Fürsprecherin seines Werks. Ihr Ehemann Colin de Land wandte sich 2002 an die Sammlung Ringier, um für die Zukunft des Nachlasses zu sorgen. Gemeinsam wurde entschieden, den Nachlass in Form einer Stiftung zu betreuen sowie das kuratorische Interesse und die Rezeption durch Ausstellungen und Publikationen zu fördern. Von 2002 bis 2004 wurde der Nachlass von der Sammlung Ringier sukzessive angekauft und befindet sich seit 2006 am Fotomuseum Winterthur, wo die circa 600 Farbabzüge, 600 Silbergelatine-Abzüge, rund 800 Polaroidaufnahmen, Negative, Kontaktabzüge sowie ein Teil der persönlichen Schriftstücke durch die Sammlung Ringier am Fotomuseum Winterthur inventarisiert und wissenschaftlich erforscht wurden.
Biografie
1959
am 10. Januar in Malden (MA) geboren
1975-1976
produziert mit Lynelle White die Dirt-Magazines
1976
Abschluss an der Madison Park High School in Malden, Rückenmarkverletzung aufgrund einer Schusswunde, es folgt ein langer Krankenhausaufenthaltab
1977
Kunststudium an der School of the Museum of Fine Arts, Boston1978lernt Jonathan (Jack) Pierson kennenab
1979
Unterstützung durch das Artist-Support-Program der Polaroid Corp.
1980/1981
Sommeraufenthalte in Provincetown (Cape Cod) mit Pat Hearn, Stephen Tashjian und Jack Pierson. Erster Super-8 Film The Laziest Girl in Town; Performances von Morrisroe und Tashjian als The Clam Twins; Einzelausstellung in der 11th Hour Gallery, Boston
1981-1982
5th Year Graduate Program der School of the Museum of Fine Arts, Boston; erste Sandwich-Prints
1982
mehrmonatiges Auslandsstipendium in Paris
1983
Super-8 Film Hello from Bertha. Eröffnung der Pat Hearn Gallery in New York City
1984
Super-8 Film Nymph-O-Maniac1985Umzug nach Jersey City (NJ)
1986
erste Einzelausstellung in der Pat Hearn Gallery; wird HIV positiv getestet; arbeitet fortan vor allem an seinen Fotogrammen
1988
zweite Einzelausstellung in der Pat Hearn Gallery
1989
stirbt am 24. Juli im Jersey City Medical Center an den Folgen von Aids. Pat Hearn wird seine Nachlassverwalterin
1994/1996/1999
Einzelausstellungen in der Pat Hearn Gallery, New York City
1995
The Boston School Gruppenausstellung im ICA, Boston
1997
Mark Morrisroe 1959-1989 Retrospektive im Rahmen der Ausstellungsreihe Unterbrochene Karrieren in der NGBK, Berlin
2000
nach Pat Hearns Tod übernimmt ihr Mann Colin de Land von American Fine Arts den Nachlass
2002
Gespräche über die Zukunft des Nachlasses in der Sammlung Ringier, erster Ankauf von Werken
2002-2004
die Sammlung Ringier erwirbt sukzessive den Nachlass
2003
Colin de Land stirbt
2006
Beginn der Aufarbeitung des Nachlasses am Fotomuseum Winterthur
2011/2012
Mark Morrisroe Retrospektive im Fotomuseum Winterthur, im Artists Space, New York, und im Museum Villa Stuck, München
Katalog
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Zur Ausstellung ist ein Katalog bei JRP|Ringier erschienen mit Beiträgen der Kuratoren Beatrix Ruf und Thomas Seelig sowie Stuart Comer, Lia Gangitano, Teresa Gruber, Elisabeth Lebovici, Fionn Meade, Frank Wagner und Linda Yablonsky, englisch/deutsch, Klappen-Broschur, 512 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. ISBN: 978-3-03764-121-7