»Street Life and Home Stories« – unter diesem Titel präsentiert das Museum Villa Stuck einen speziellen Sammlungsbereich von Ingvild Goetz, der bislang noch nie in seiner ganzen Bandbreite der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Gezeigt werden Werke von 24 Künstlerinnen und Künstlern aus dem Fotobestand der Sammlung Goetz, die mittlerweile rund 1300 Fotografien von mehr als 70 Künstlerinnen und Künstlern umfasst. Beginnend bei klassischen Fotopositionen, vertreten sind etwa August Sander, Walker Evans, Diane Arbus, William Eggleston oder Nan Goldin, spannt die Ausstellung einen weiten Bogen bis hin zu Gegenwartskünstlern wie Wolfgang Tillmans und jüngsten Arbeiten wie denjenigen von Sven Johne, entstanden in den Jahren 2009/10. Die Stadt als öffentlicher Raum, »Street Life«, und der häusliche Rahmen als privates Refugium, »Home Stories«: zwischen diesen Polen, die über alle Generationen hinweg von gleichermaßen hoher Aktualität sind, oszilliert die Ausstellung und versammelt hierzu extrovertierte und intime, großformatige und kleinteilige, immer jedoch höchst qualitätvolle Arbeiten. Dabei eröffnet sich die Möglichkeit, die Entwicklung des Mediums Fotografie über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg zu verfolgen.
Mit der Kamera festgehaltene oder vor der Kamera inszenierte Lebensgeschichten, die mit Konventionen brechen und die Grenzen der eigenen Identität erkunden, verweisen auf gesellschaftliche, politische und soziale Themen, die über oder neben den rein subjektiven Momenten der Fotograf/innen stehen. Die Stadt, die Straße und das häusliche Umfeld verwandeln sich in eine Bühne für den Augenblick. Die Arbeiten von Evelyn Hofer oder die Aufnahmen der amerikanischen Stadt »Trona« von Tobias Zielony halten sowohl die Interaktion von Mensch und Umgebung fest und zeigen zugleich Orte, die als Chiffren für Lebensgefühl und Schicksal stehen. Die Gegenüberstellung von bedeutenden Fotokünstlern wie August Sander mit Gegenwartskünstlern wie Wolfgang Tillmans erlaubt nicht nur einen Blick auf die Sammlertätigkeit von Ingvild Goetz, sondern auch auf grundlegende Tendenzen der künstlerischen Haltung in der Fotografie und Wechselwirkungen zwischen ihren Epochen. Die postfeministischen Positionen von Cindy Sherman und Nan Goldin verweisen auf die Grenzen von Identität und Gesellschaft, auf Konventionen und Freiräume. Die zeitlosen Porträts August Sanders offenbaren soziologische und gesellschaftliche Strukturen ebenso wie jüngere Porträtarbeiten von Diane Arbus.
Nach den wegweisenden Präsentationen zur Medienkunst im ZKM Karlsruhe (»Fast Forward«, 2003, 2010), erlaubt die aktuelle Ausstellung einen weiteren medienorientierten Blick auf die bedeutende Münchner Sammlung, die bereits 2002 unter dem Titel »Hautnah« im Museum Villa Stuck zu Gast war. Während damals Werke von 20 internationalen Künstlerinnen und Künstlern aus den verschiedensten Kunstgattungen gezeigt wurden, geht es heute, knapp zehn Jahre später, ausschließlich um das Medium Fotografie. Wie damals, spielt auch in der vorliegenden Ausstellung die sozialpolitische Intention, die hinter den gezeigten Arbeiten steht, eine zentrale Rolle. Und wie damals zeigt sich, dass es die Extreme sind, die Ingvild Goetz interessieren, nicht nur im Leben, sondern auch in der Kunst.
Zur Ausstellung
Im Fokus der Themenkomplexe »Street Life« und »Home Stories« wird eine umfangreiche Auswahl von Kunstwerken vorgestellt, deren Schwerpunkt eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen, politischen und sozialen Sujets bildet. Es ist das Konzept der Ausstellung, Wechselwirkungen zwischen Epochen und zwischen künstlerischen Herangehensweisen darzulegen, ohne dabei didaktisch oder chronologisch vorzugehen. Die Stadt, die Straße und das häusliche Umfeld sind die zentrale Bühne für diese generationsübergreifenden Themen.
Seit über 40 Jahren sammelt die ehemalige Galeristin Ingvild Goetz die ganze Breite der zeitgenössischen Kunst. Im Bestand der Sammlung Goetz finden sich die klassischen Gattungen Malerei, Skulptur und Grafik, aber auch Fotografie und Video und nicht zuletzt eine Vielzahl von raumgreifenden, installativen Arbeiten. Während sich Ingvild Goetz bei allen anderen Kunstformen eine zeitliche Beschränkung auferlegt hat, gibt es in ihrem Fotografiebestand nicht nur aktuelle Positionen, sondern es sind auch zentrale fotografische Entwicklungen des gesamten 20. Jahrhunderts vertreten.
Die Straße als Motiv der Fotografie
Die Straße wird schon in den Anfängen der Fotografie zum Sujet, sie wird zum Multiplikator einer subjektiv empfundenen Stimmung, die gesellschaftliche Phänomene und deren Geschichtlichkeit erkennt und festhält. »Street Photography« wird zum Schlagwort für das Werk von Eugène Atget (1857–1927) oder Henri Cartier-Bresson (1908–2004). Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Tendenz weg von den Errungenschaften des modernen städtischen Lebens hin zu soziologisch motivierten Ansätzen.
In den letzten Jahren fokussiert der Blick der Fotografen statt der Stadtmitte den Vorort, den Nebenschauplatz städtischen Lebens. Es sind also nicht die repräsentativen Stätten, die Touristen-attraktionen, die zum Bildinhalt werden, vielmehr sind es Orte, die Lebensbedingungen offenlegen und die dadurch ebenso das Porträt in seiner Aussage unterstreichen, so in den Werken von Francis Alÿs, Stan Douglas oder Tobias Zielony. Der Fotograf wird zum Beobachter, zum observierenden Betrachter, wie Susan Sontag 1978 feststellte: »Der Fotograf, eine bewaffnete Spielart des einsamen Wanderers, pirscht sich an das großstädtische Inferno heran und durchstreift es – ein voyeuristischer Spaziergänger, der die Stadt als eine Landschaft wollüstiger Extreme entdeckt.«
Die Essenz urbaner Strukturen in einem kurzen Augenblick, der den Zeitgeist und gleichzeitig eine über die Zeit währende Aussage übermittelt, offenzulegen, ist jenseits der Dokumentarfotografie Leistung der künstlerischen Fotografie, so bei Thomas Struth oder Candida Höfer. Das Leben in den Straßen einer Stadt zeigt die Beschäftigung des Künstlers mit soziologischen Beziehungen – und gewährt damit einen Blick auf die Gesellschaft und deren Bedingungen. Die Straße als öffentlicher Raum zeigt damit weit mehr als intime Porträts, sie steht als Chiffre für die Möglichkeiten individueller Entfaltung und Lebensgestaltung, etwa bei Evelyn Hofer und Ed van der Elsken.
In der Fotografie ist eine Expansion von der Wand in den Raum zu beobachten, insbesondere wenn man an die raumgreifenden Arbeiten von Wolfgang Tillmans oder Robin Rhode denkt. Diese installative Präsentation steht der traditionellen Hängung der Silbergelatineabzüge eines August Sander oder Walker Evans fast diametral gegenüber. Wolfgang Tillmans und Paul Graham, die ihre Arbeiten auch als Künstlerbücher gestalten, erweitern das Medium um neue Präsentationsformen im Ausstellungsraum. Aus Kenntnis des Rezeptionsverhaltens der Betrachter setzen die Künstler Leerstellen bewusst ein. Es bleibt Raum für die Vorstellungskraft des Betrachters, für dessen Reflexion über eigene Erfahrungen und Erinnerungen. Die Leerstellen fungieren als Verbindungselemente, sie verbinden Erzählpassagen, lassen Zeitsprünge zu – und berücksichtigen den individuellen Erfahrungsraum des Betrachters.
Das häusliche Umfeld als Bühne fotografischer Inszenierungen
Dem Thema »Home Story« haben sich die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung auf verschiedene Weise genähert. Bei vielen ist es nur eine Facette in ihrem Werk, bei anderen ein zentrales Thema. Künstlerische Positionen beschäftigen sich mit der Darstellung von Innenraum und der Inszenierung der Privatheit im häuslichen Umfeld. Szenische Ausstattung, ein narrativer Ansatz, der eine Idee verfolgt sowie die Einbeziehung des Betrachters sind Merkmale von Inszenierung. Bei Künstlern wie Cindy Sherman, Laurie Simmons und Jeff Wall entspricht die Herangehensweise all diesen Kriterien. Nobuyoshi Araki, Nan Goldin und Elmgreen & Dragset zeigen hingegen ihr privates Umfeld in sehr persönlicher, offenbarender Art und Weise – als Fototagebuch.
Das Interieur als Chiffre für gesellschaftliche und geschlechtliche Rollenbilder ist bei Laurie Simmons, Daniela Rossell und Cindy Sherman künstlerische Strategie. 80 Jahre zuvor hat sich schon August Sander in seinem epochemachenden Mappenwerk Menschen des 20. Jahrhunderts mit dem Thema gesellschaftlicher und geschlechtlicher Rollenbilder auseinandergesetzt. Mit nahezu enzyklopädischem Anspruch hat er ein Bildarchiv geschaffen, das einen Querschnitt durch alle Gesellschaftsschichten des ausgehenden Kaiserreichs und der Weimarer Republik darstellt.
Der Themenkreis des Projekts schließt sich bei vielen Künstlern der Ausstellung werkimmanent. Es gibt Wechselwirkungen zwischen Epochen, künstlerischen Herangehensweisen sowie zwischen der Stadt, der Straße und dem häuslichen Umfeld. Vor allem die Arbeiten von Jeff Wall und Stan Douglas stehen an einer sinnbildlichen Schnittstelle. Ein Ort mit zwei Seiten, dem Innen und dem Außen, der Straße und dem Haus, wird bei Stan Douglas zur Chiffre, zum Symbol und schließlich zur Bühne für wirtschaftlichen Untergang, menschliches Schicksal und Tragödie. Die von ihm gezeigten Arbeiten repräsentieren die Wechselwirkungen von »Home Story« und »Street Life«.
Künstler/innen der Ausstellung
Francis Alÿs, geboren 1959 in Antwerpen, lebt in Mexiko-Stadt.
Nobuyoshi Araki, geboren 1940 in Minowa/Tokio, lebt in Tokio.
Diane Arbus, geboren 1923 in New York, gestorben 1971 in New York.
Stan Douglas, geboren 1960 in Vancouver, lebt in Vancouver.
William Eggleston, geboren 1939 in Memphis, Tennessee, lebt in Memphis, Tennessee.
Elmgreen & Dragset : Michael Elmgreen, geboren 1961 in Kopenhagen, lebt in Berlin und London. Ingar Dragset, geboren 1969 in Trondheim, lebt in Berlin.
Ed van der Elsken, geboren 1925 in Amsterdam, gestorben 1990 in Edam.
Walker Evans, geboren 1903 in Saint Louis, Missouri, gestorben 1975 in New Haven, Connecticut.
Hans-Peter Feldmann, geboren 1941 in Düsseldorf, lebt in Düsseldorf.
Nan Goldin, geboren 1953 in Washington, D.C., lebt in New York und Paris.
Paul Graham, geboren 1956 in Stafford, lebt in London und New York.
Candida Höfer, geboren 1944 in Eberswalde, lebt in Köln.
Evelyn Hofer, geboren 1922 in Marburg an der Lahn, gestorben 2009 in New York.
Sven Johne, geboren 1976 in Bergen auf Rügen, lebt in Berlin.
Steve McQueen, geboren 1969 in London, lebt in Amsterdam und London.
Robin Rhode, geboren 1976 in Kapstadt, lebt in Johannesburg und Berlin.
Daniela Rossell, geboren 1973 in Mexiko-Stadt, lebt in Mexiko-Stadt und New York.
August Sander, geboren 1876 in Herdorf, gestorben 1964 in Köln.
Cindy Sherman, geboren 1954 in Glen Ridge, New Jersey, lebt in New York.
Laurie Simmons, geboren 1949 in Long Island, New York, lebt in New York.
Thomas Struth, geboren 1954 in Geldern, lebt in Berlin und Düsseldorf.
Wolfgang Tillmans, geboren 1968 in Remscheid, lebt in London und Berlin.
Jeff Wall, geboren 1946 in Vancouver, lebt in Vancouver.
Tobias Zielony, geboren 1973 in Wuppertal, lebt in Berlin.
Katalog
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Zur Ausstellung erscheint im Hatje Cantz Verlag ein Katalog in deutscher und englischer Sprache, herausgegeben von Michael Buhrs, Ingvild Goetz, Verena Hein und Karsten Löckemann, mit wissenschaftlichen Essays von Verena Hein, Karsten Löckemann und Philip Ursprung sowie monografischen Beiträgen zu den Künstler/innen von Diane Amiel, Andreas F. Beitin, Ulrich Bischoff, Cornelia Gockel, Inka Graeve Ingelmann, Bart van der Heide, Verena Hein, Karsten Löckemann, Stephanie Rosenthal, Rudolf Scheutle, Maria Schindelegger, Sabine Schmid, Bernhart Schwenk, Thomas Selig, Birgit Sonna, Susanne Touw, Stephan Urbaschek, Johannes Vogt, Katharina Vossenkuhl, Thomas Weski und Urlich Wilmes. ISBN 978-3-7757-2782-2 (Deutsch), ISBN 078-3-7757-2783-9 (Englisch)