Gülbin Ünlüultrahappy -

Es mutet an wie der Einstieg in das Drehbuch eines Sci-Fi-Thrillers: „Die Grundstimmung kann so beschrieben werden: ein Ort, eine Ausstellung, eine Zeugin, teilweise verlassen, teilweise angeeignet, mutet postapokalyptisch an, ist aber lebendig und intakt. Betrachter*innen werden an einen Ort eingeladen, in dem die Grenzen von Form, Medium und Zeit zusammenlaufen und zusammenbrechen.“ So beschreibt die Künstlerin Gülbin Ünlü das Grundszenario ihrer Ausstellung "ultrahappy".

In vier Räumen zelebriert Gülbin Ünlü das Mash-up, das sich in ihrem interdisziplinären Ansatz widerspiegelt, der Malerei, künstlerische Kollaborationen, Foto- und Videoarbeiten, Performance und Musik umfasst und auf Archive und KI zurückgreift. Popkulturelle Referenzen werden von der Künstlerin zitiert ebenso wie autobiographische Spuren gelegt, Themen wie Migration und Existenz/Co-Existenz, Zugang/Ausschluss scheinen einem Echo gleich immer wieder auf – oder ist das kein Echo, sondern ein Geist?

[Toto pulls the curtain aside, revealing the real Wizard of Oz as a short, middle-aged man with blond hair]
The Wizard of Oz: Oh...!
[turns and speaks into the megaphone]
The Wizard of Oz: The Great Oz has spoken! Oh!
[he pulls the curtain again]
The Wizard of Oz: Pay no attention to that man behind the curtain! The greatest... Oz... has... spoken!
Dorothy: [Yanking back the curtain] Who are you?
The Wizard of Oz: Who, ah, ah... I am the Great and Powerful...! Wizard, of Oz...
Dorothy: YOU are? I don't believe you!
The Wizard of Oz: Well, I'm afraid it's true, there's no other Wizard except me...
The Scarecrow: [angrily] You HUMBUG!
The Cowardly Lion: Yeah!
The Wizard of Oz: [ashamed] Yes, yes, exactly so, I'm a humbug.
Dorothy: Oh... You're a very bad man!
The Wizard of Oz: Oh, no, my dear! I, I'm a very good man! I'm... just a very bad wizard.

Die Szene aus dem Musical „Der Zauberer von Oz“ ist ein erster Schlüsselmoment, wenn man Ünlüs Ausstellung im zweiten Stock von VS, dem Interimsquartier des Museums Villa Stuck, betritt. Der Vorhang als Grenzmarkierung zwischen Macht und Illusion. Willkommen in „Curtain Call (1st episode)“: Schemenhaft lassen sich Figuren und Landschaften auf den Vorhängen erkennen, aus der Ferne begleitet von Wort- und Soundfragmenten.

Die ganze Szenerie steckt in einem nie enden wollenden Loop, ganz in der Tradition der Hauntology mit popkulturellen Referenzen, die das Zeitgenössische hinterfragen. Hauntology, ein Schlüsselmoment im Erleben und Erfahren der Arbeiten von Gülbin Ünlü: die Rückkehr oder das Fortbestehen von Elementen aus der sozialen oder kulturellen Vergangenheit, wie bei einem Geist. Hauntology ist ein Neologismus, den der französische Philosoph Jacques Derrida benutzt in „Spectres of Marx“ (1993) und der seither auch in die Bildende Kunst, Philosophie und elektronische Musik, aber auch in Belletristik und Literaturkritik Einzug gefunden hat: „eine Ontologie des Immateriellen, von etwas, das nicht – oder nicht mehr – da ist, die Gegenwart aber, gleich einer geisterhaften Präsenz, heimsucht“ [Benjamin Moldenhauer: Das Verschwinden der Zukunft aus der Popkultur]: ein Geist, der nicht von uns ablässt, ein Echo, das nicht aufhört nachzuklingen.

„Eine Untersuchung von Zugehörigkeit, die bei Ünlü als aus fragmentierten Einzelteilen bestehend gedacht wird, zieht sich genauso durch ihr Schaffen wie der Versuch, bestehende Wertordnungen und Hierarchien zu demontieren.“ [Klassenfragen. Kunst und ihre Produktionsbedingungen, Berlinische Galerie, Text zur Ausstellung]

„[Nur] Nachahmung ist echte Innovation“ [Bernhart Schwenk: Pretend it's true. Die Kunst von Gülbin Ünlü als Erweiterung der Wirklichkeit], sagt Ünlü zu ihrer Vorgehensweise.

Im zweiten Raum der Ausstellung, „Streetlife live“ betitelt, erweitert eine Taubenschlaginstallation Ünlüs Erkundung des Grenzüberschreitens. Flächendeckende extrahierte Killim-Elemente überziehen Boden und Wand: „Echos der Migration“, so die Künstlerin. Tauben: in ihrer Abwesenheit eine unheimliche Erinnerung daran, wie sie einst als Haustiere sowie als Nutztiere domestiziert wurden, jetzt aber wie so viele vertriebene Wesen durch die städtische Wildnis navigieren.

Fünf Tauben haben den Raum für einige Stunden erobert, Aufnahmen dieser Performance sind groß eingeblendet. Jetzt sind sie noch geisterhaft zu erahnen, sucht man Spuren – hört man da einen Nachhall der Tiere? Die Taube und der Mensch, diese Gegenüberstellung zieht eine Analogie zur deutschen Gastarbeitergeschichte, wo die einst eingeladenen Menschen nun das Unbehagen ertragen, als Übermaß angesehen zu werden, ihre Anwesenheit und Beiträge durch eine sich ständig verändernde gesellschaftliche Perspektive eingerahmt werden. Überhaupt sind die sprachlichen und strukturellen Parallelen in der Behandlung von Stadttauben, Obdachlosen und bestimmten Migrantengruppen auffällig. Alle drei werden oft als lästig oder gefährlich für die Mehrheitsgesellschaft dargestellt – sei es durch urbane Architektur oder durch Worte.

Einschub über die Künstlerin: „Als Kind einer sogenannten Gastarbeiter*innenfamilie der dritten Generation war für sie die Vorstellung, ein Kunststudium aufzunehmen, weit entfernt. In ihrer künstlerischen Arbeit reflektiert sie die erlebten Ausschlussmechanismen und die Erfahrung des Dazwischen.“ [Klassenfragen, s. o.] Hören wir das Echo von Tauben, wie sie vor uns über dem Bürgersteig laufen und plötzlich mit schnellen Flügelschlägen davonfliegen? Sehen wir die Geister der Tauben, die vor uns in diesem Raum waren, schon immer da waren? „Die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier […] vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes, keiner weiß warum wir hier sind.“ [Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras, S. 171]

„Vertreter*innen der postmigrantische Generation nehmen keine Rücksicht auf nationale Erzählungen, sondern versuchen, andere Geschichten zu erzählen, andere Fragen zu stellen und andere Biografien zu entwerfen. Das Erfahrungswissen, was bisher ignoriert und marginalisiert wurde, wird zum Ausgangspunkt genommen und zum Teil privilegiert. Die Angehörigen der postmigrantische Generation, die weiterhin mit negativen Zuschreibungen konfrontiert werden, scheinen eher als die erste Generation in der Lage zu sein, mit uneindeutigen, mehrdeutigen und ambivalenten Lebenswirklichkeiten umzugehen. Dazwischensein gehört zur Normalität und zu den Lebensentwürfen dieser Generation, eine Art kreativer Desorientierung.“ [Universität Osnabrück, Postmigrantisch, aus: Inventar der Migrationsbegriffe]

Ausgehend von Hybriden, Transfer und Ebenen verschwimmen in den nächsten beiden Räumen Gülbin Ünlüs Gemälde zu räumlichen Installationen, verkörpern einen fließenden, interdisziplinären Ansatz, der über die statische Natur traditioneller Kunstformen hinausgeht.

„Comfort Zone“ nennt die Künstlerin eine Bank in der Mitte des Raumes, die versehen ist mit Taubenspikes, welche ein Verweilen vor den Bildern nahezu unmöglich machen. Eine Referenz auf so genannte „Hostile Architecture“ als Maßnahme gegen „Störenfriede“ im öffentlichen Raum – seien es Tiere wie Tauben oder sozial marginalisierte Menschen wie Obdachlose. Innen und Außen lösen sich gänzlich auf durch die Flügelschläge von Tauben, die uns durch die Räume verfolgen – und alles zu einer geisterhaften Performance werden lassen, in der wir selbst die Hauptrolle spielen und uns fragen müssen, ob wir hier wirklich erwünscht sind.

Ünlüs selbst entwickelte Technik ermöglicht es ihr, die Malerei in neue Dimensionen zu manipulieren und so die Grenzen von Genre und Klassifizierung in Frage stellt. „Die Künstlerin hat eine eigene Technik entwickelt, ein Hybrid zwischen Druck und Malerei […] Das führt zu einer Abstraktheit, Unschärfe, die alles Biografische, das Gülbin Ünlü in den Arbeiten preiszugeben scheint, konsequent wieder ins Kryptische wandelt.“ [Jutta Czeguhn: Bilder in Bodenhaltung] Ist das Kryptische das Geisterhafte? Was sind die Motive aus der Vergangenheit, die Gülbin Ünlü heimsuchen?

Blick in das Atelier der Künstlerin: „Am Anfang steht das Sichten des möglichen visuellen Arbeitsmaterials, das die Künstlerin gesammelt hat und von dem sie in ihrem Atelier umgeben ist: Familienfotos, Magazin- und andere Medienbilder, Ergebnisse von Recherchen – ein persönliches, auch inneres „Archiv“, in dem Erlebnisse, Eindrücke und Sichtweisen einer Frau des 21. Jahrhunderts mit postmigrantischer Biografie sedimentieren.“ [Bernhart Schwenk, s. o.]

Eine postmigrantische Biographie, was das bedeuten (kann): „Wir lassen uns nicht mehr von euch definieren, sondern definieren uns selbst. Doch dieses ‚Wir‘ ist nicht einheitlich, sondern basiert auf einer Allianz, die real wird durch kollektive Aktionen, indem wir bestimmte Haltungen und Praktiken ersinnen […]. Uns eint nicht das Schicksal, sondern der gemeinsame Bezug auf eine migrantische Erfahrung und ein marginalisiertes Wissen.“ [Universität Osnabrück, s. o.]

„ultrahappy“ ist eine eindringliche Erkundung der Vergangenheit, der Gegenwart und der fragmentierten Zukunft, wobei Ünlüs Praxis am Scheideweg der überladenen, aber dennoch generativen Verflechtungen der zeitgenössischen Kunst steht.

„Die Kunst […] muss […] vor allem eines tun: Vergangenheit erforschen und Zukunft zurückerobern. Sie muss der Gegenwart hinten und vorne die Ausgänge freihalten, um uns, in einem Satz, wieder in geschichtliche Bewegung zu bringen. Denn nur eine offene Gegenwart, in der man aus Distanz zum Geschehen Stellung nehmen kann, ist darstellbar. Und eine darstellbare Gegenwart kann als veränderbar begriffen werden.“ [Milo Rau, Zürcher Poetikvorlesung, November 2022]

Über die Künstlerin

Gülbin Ünlü lebt und arbeitet in München, wo sie ab 2012 an der Akademie der Bildenden Künste bei Prof. Markus Oehlen sowie den Gastprofessor*innen John Jordan & Isabelle Fremeaux (Labofii), Simon Starling und Kim Noble Malerei, Zeichnung, Bildhauerei und Performance studierte. 2018 schloss sie mit dem Diplom ab, das mit dem Preis der Erwin und Gisela von Steiner-Stiftung ausgezeichnet wurde. Seit 2016 hat Ünlü mehrere Publikationen und Musikalben veröffentlicht, zuletzt einen monographischen Katalog, der im Hammann von Mier Verlag erschien. 2021 erhielt sie das Stipendium für Bildende Kunst der Landeshauptstadt München, 2022 den Förderpreis für Bildende Kunst der Landeshauptstadt München und 2023 den Bayerischen Kunstförderpreis. 2024 hielt Gülbin Ünlü eine Vertretungsprofessur für Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste, München.